Photographie im Motivuniversum des Drachenfels
Ein mentales Gravitationszentrum. Schon Byron, Turner und Heine konnten sich ihm nicht entziehen. Schroffer Felsen aus schrundigem Vulkangestein. Turmgekrönt. Geburtsstätte der Rheinromantik. Mythos, Ideologie, Kitsch, Sonntagsausflug. Deutsche Landmarke. Erstaunlich, wie die Aura eines Berges das Leben bereichern kann. Vor Jahrzehnten schon hat der Drachenfels mich angezogen. Auch wenn er selbst nicht sichtbar war, sein Kraftfeld konnte ich immer spüren.
Endlich auf dem Gipfel. Im Sichtfeld der Kamera zeichnen sich die Bildelemente einer faszinierenden Landschaft ab, mein Universum der Motive. Das Rheintal, die Wunderwelt des Siebengebirges, der Kölner Dom. Dann begrenzen Dunst und Erdkrümmung die Sichtweite, erweiterbar durch die Kraft der Assoziation. Heimat. Im Sichtfeld ein überschaubarer Raum. Seit Byrons »The Castled Crag of Drachenfels« Projektionsfläche für Romantiker.
Lieblich? Kann der Sehnsuchtsraum nicht zum Leidensraum werden? Der Genius Loci zwingt zum Nachdenken über die Existenz des Menschen in historischen Dimensionen. Im Sichtfeld entsteht ein Deutsches Geschichtsbild in neun Kapiteln. Manchmal skurril, oft tragisch oder im schäbigen Kontrast zur wunderbaren Landschaft.
Im Sichtfeld zeigt sich die Macht der Photographie über die medial vermittelte Wahrnehmung. Das Universum der Motive hält viele Perspektiven bereit. Da ist das Offensichtliche. Der Drachenfels mit seinen Wunden, die nicht einmal die Säulen des Kölner Doms heilen könnten. Die verwunschene Kuppe der Wolkenburg. Die klassischen Blicke, überlagert vom Protz des Historismus oder den Bausünden des Nachkriegsbooms im zwanzigsten Jahrhundert. Und da ist das zwar Im Sichtfeld Vorhandene, doch flüchtig oder absichtsvoll Übersehene. Durch die Begrenzung des Ausschnitts erscheint das beinahe Unsichtbare. Auch bedrohliche Motive, wie in der Gefangenenakte des Erich Sander, Sohn des großen Photographen August Sander.
Zeichen einer Tragödie, in der sich Themen verdichten, die Im Sichtfeld präsent sind. Die Liebe zur Photographie. Das Siebengebirge als Mittelpunkt künstlerischen Schaffens, auch August Sander hat es oft gesehen. Die Bedrohung des Menschen in Zeiten des Terrors und der Barbarei. Rheinromantik? Wer vom Schicksal des Erich Sander, verstorben als Politischer Häftling im Zuchthaus Siegburg, erfährt, muss den Frühling auf der Wolkenburg in einem anderen Licht sehen.
Im Sichtfeld der Kamera bestimmt die Begrenzung des Bildausschnittes, welche Geschichte erzählt wird. Selektive Photographie, unserer Wahrnehmung entsprechend. Die subjektive Wahl der Motive konstruiert parallel existierende Bilderwelten. Faszinierend, wie sich auf engstem Raum die visuellen Stereotype der »eskapistischen Romantik« und die Bilder einer oftmals tristen »Parallelrealität« verschränken. Die Kamera wird zu einem geheimnisvollen Gerät mit bipolarer Funktion. Als »hermeneutische Maschine« hilft sie bei der Suche, Einordnung und Interpretation der Im Sichtfeld vorhandenen Zeichen. Und sie ist Mittel zur Visualisierung der subjektiven, auch emotionsgeleiteten Deutung des Zeichengewebes. Meine Photographie erhebt nicht den Anspruch, eine intersubjektiv gültige »Wirklichkeit« zu dokumentieren.
Wann also wird mein Geschichtsbild sichtbar werden? Ich brauche Zeit. Ein latentes Bild erscheint, vorhanden zwar, doch noch nicht vollkommen entwickelt. Es wird hier, im Datennetz, vor dem Auge des Betrachters in Ausschnitten wahrnehmbar. Im Widerspruch und als Möglichkeit. Alles Schwarze und Weiße hat eine Seele aus Silber. Doch nun muss das chaotisch körnige Negativ ins Datenkorsett. Hybride Ästhetik. Ungeliebt? Nur wenn sich Farbe Im Sichtfeld zeigt, löst sich der Widerspruch auf. Doch die Möglichkeiten bestechen. Das Konzept vom latenten Bild, im Netz revitalisiert. Im Sichtfeld werden die Motive sichtbar, mit der Zeit.
Anmerkung
(1)
gefunden im Landesarchiv NRW (Abteilung Rheinland), Düsseldorf, Bestand Ger. Rep. 173, Band 433