Wolkenburg | Content_Preview

Der Politische Häftling [Erich Sander] und der Photograph [August Sander]

 

Blicke aus dem Küchenfenster.

Das Panorama des Siebengebirges. Sanfte Hügel im warmen Frühlingslicht. Der schroffe Drachenfels im Sommergewitter. Die Löwenburg in dunstiger Ferne, auf dem Gipfel ein herbstlich zerzauster Baum. Wintermuster auf der Wolkenburg. Die faszinierende Vielfalt der wechselnden Lichtwirkungen und Stimmungen.

Wunderbare Landschaft. Schauplatz einer Tragödie in Zeiten der nationalsozialistischen Barbarei.

Jeden Morgen fiel mein Blick auf die Felswände der Wolkenburg, schrundige Narben in der bewaldeten Vielfalt. Magische Anziehungskraft. Die auch August Sander erfahren hat, der große Kölner Photograph, weltberühmt für sein Werk »Menschen des 20. Jahrhunderts«. In hunderten Portraits wollte er ein ungeschminktes Bild seiner Zeit schaffen, insbesondere im Kaiserreich, in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus. Gedacht als vergleichende physiognomische Typologien, entstanden photographische Offenbarungen im Spannungsfeld analytischer sozialer Rollenbilder und feinsinnig erspürter Individualität.
Später habe ich August Sander als Landschaftsphotographen entdeckt. Da waren sie, die Blicke auf das Siebengebirge, die mich so begeistern. Sanders Physiognomien der Erdoberfläche im Zusammenspiel von Mensch und Natur. Schnörkellos dokumentarisch gemeint, wirkten sie keinesfalls emotionslos auf mich. Und wie schön, die Photographie »August Sander im Siebengebirge«, wahrscheinlich entstanden im Kriegsjahr 1941, strahlte auf mein Küchenfenster zurück. Ein Selbstportrait. In Anspielung auf Caspar David Friedrich steht der Meister am Abgrund und blickt in das Rheintal. Ein wenig stolz bin ich, dass August Sanders Felsvorsprung von meiner damaligen Wohnung aus sichtbar war. Ich blicke hinaus, und der Große Photograph blickt zurück. Das Fenster vermisse ich.

August Sander hat sich intensiv mit Landschaften beschäftigt, darunter der Westerwald, das Moseltal oder die Eifel. Das Siebengebirge durchwanderte er seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Zunächst aus künstlerischem Interesse, später auch um Abstand vom Irrsinn seiner Zeit zu gewinnen. Denn den Gesinnungsterror der von ihm zutiefst abgelehnten Nationalsozialisten musste er früh erfahren. Sein ehrliches Buch »Antlitz der Zeit« (1929) konnten sie nicht ertragen, es wurde kurz nach der »Machtergreifung« aus dem Verkehr gezogen. Das Portraitwerk hat er freilich nie aufgegeben. Manchmal arbeitete er im Verborgenen, darunter an der Mappe »Verfolgte«, den Photographien bedrängter Juden, ein riskantes Unterfangen in finsterer Zeit.

Die Wolkenburg. Refugium im Siebengebirge. Faszinierend. August Sander war hier. Dann stieß ich auf die Tragik, mit der dieser Felsen aufgeladen ist.

Denn im Zuchthaus Siegburg, in Sichtweite dieser Wunderwelt aus Gestein und Pflanzenkraft, erlitt August Sanders ältester Sohn Erich ab 1935 eine zehnjährige Haftstrafe wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«. Erich Sander, zeitweise Mitglied der KPD und gegen Ende der Weimarer Republik in der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) aktiv, nahm schon vor 1933 den Kampf gegen die Nazis auf (1). Ein Widerstandskämpfer der ersten Stunde, unbeugsames Opfer der NS-Terrorjustiz. Der engagierte Marxist, vor seiner Verhaftung Student der Volkswirtschaft und Geschichte, erhielt im sozialdemokratisch orientierten Elternhaus schon früh wichtige politische und künstlerische Impulse. Bald teilte er die Leidenschaft des Vaters für die Photographie. Insbesondere Landschaften weckten sein Interesse, und er erledigte Auftragsarbeiten für das Atelier Sander, die unter dem Namen des Vaters publiziert wurden. Eine spannungsreiche Verbindung, die Mauern überwinden konnte, denn auf geheimen Wegen gelangte ein Selbstportrait des Sohnes in der Zuchthauszelle in das Mappenwerk des Vaters:

Menschen des 20. Jahrhunderts. Mappe VI: Die Stadt. Photographie VI/44A/1: Politischer Häftling [Erich Sander], 1943.

Mit Erich Sanders packendem Selbstportrait steht eine weitere Photographie am Anfang meiner traurigen Wanderung. So begleiten mich zwei Bilder mit »magischer« Sogwirkung, die in einer tragischen Beziehung zueinander stehen. Mein Fensterbild »August Sander im Siebengebirge« zeigt den naturverbundenen und unbeirrbaren Photographen, der das eigene Schicksal konsequent in sein Werk integriert. Folgerichtig wird der Sohn zum Sozialen Typus im Epochenpanorama des Vaters: Erich Sander, der Politische Häftling, ein Opfer seiner Zeit im tristen Leidensraum des Siegburger Zuchthauses. Doch anders als beim Vater, dem die Ferne blieb, musste hier der visionäre Geist das Mauerwerk durchdringen.

Im Medium Photographie verschränken sich die Daseinssphären zweier Menschen in Bedrängnis. Denn auch Erich Sander begleitete die Kamera auf seinem Weg, sie ließ die Leidenszeit etwas erträglicher werden und stellte eine Beziehung zur Außenwelt her. Der brutale Alltag, die Zwangsarbeit, harte Außenkommandos, all dies blieb ihm nicht erspart. Doch dem Intellektuellen wurden auch »anspruchsvollere« Aufgaben anvertraut, wie die Tätigkeit als »Lazarettflurwärter«. Und die Rolle eines Gefängnisphotographen. Anfertigung von »Erkennungsdienstlichen Aufnahmen« im Auftrag der Anstaltsleitung. Dokumentation der Zuchthausbetriebe. Mißbrauch seiner Schaffenskraft in der »Kriminalbiologischen Forschung« mit ihrer abwegigen Konstruktion einer »Verbrecherphysiognomie«. Das war die »offizielle« Seite einer Existenz voller Bedrohungen und Widersprüche im NS-Zuchthaussystem.

Erich Sander. Weitblickend. Mutig. Ein aufrechter Deutscher. Die Haftzeit hat er nicht lebend überstanden.

Daneben die Parallelwelt der Konspiration, die Rolle des geheimen Dokumentaristen. Teilweise mit Geheimtinte geschriebene Briefe, meist an die Eltern, die Mutter Anna Sander im Zentrum der Kommunikation. Bedrückende Beschreibungen der Haftbedingungen. Dazu die Bilder. Er beschafft sich eine illegale Kamera, die er in unbeobachteten Momenten nutzen kann. Und kopiert in der Zuchthausdunkelkammer, Rückzugsraum wie die Wildnis der Wolkenburg, seine im Auftrag der NS-Justiz entstandenen Photographien. Als Schmuggelgut werden sie zu herausragenden Zeitdokumenten im Werk des Vaters. All das über Jahre. Nur noch wenige Monate bis zur Entlassung. Im Jahre 1944 eine trügerische Hoffnung. Die Gestapo wartet schon. Unerträgliche Leibschmerzen. Die Einlieferung ins Krankenhaus, viel zu spät.

Zurück zum Fenster. Eine traurige Geschichte bestimmt den Blick auf die Welt. Verstörende Empfindungen stellen sich ein.

Jahrzehnte nach dem Tod von Sohn und Vater. Was bleibt dem Photographen {…}*? Im Sichtfeld meiner Kamera erscheinen Erinnerungsorte und Erinnerungsobjekte. Die Wolkenburg. Das Zuchthaus. Eine Gefangenenakte. Der Folterkeller der Gestapo. Köln und Kuchhausen im Westerwald, Wirkungsstätten des August Sander. Mit der Kamera registriere ich die Evokationen der Verknüpfung des Wissens um die Familientragödie mit der Beschaffenheit der Schauplätze und Objekte. Ein subjektives Zeitbild, in dem Faktisches, Vermutetes und Nachempfundenes die Bildausschnitte, Leidensmuster und Tonwerte prägt, die meine Kamera generiert. Im Hintergrund bleiben Erich und August Sander als inspirierende Personen präsent, doch nicht immer im biographischen Detail. Als historisch-soziale Typen […] verbinden sie das Überindividuelle mit dem Einzelschicksal, bestimmt vom Horror ihrer Zeit:

Der Politische Häftling […] und der Photograph […].

 

Anmerkung

(1)
Erich Sander engagierte sich in der Weimarer Republik zunächst in der Kommunistischen Studentenfraktion (Kostufra). 1925 wurde er Mitglied der  KPD. Dort gehörte er zu dem von der Parteilinie abweichenden »rechten Flügel«, der u.a. für eine Solidarisierung mit der SPD im Kampf gegen die Nazis eintrat. Ferner stand auch das Verhältnis der KPD zur KPdSU zur Debatte. Die »Abweichler«, organisiert in der neugegründeten KPO (KPD-Opposition), wurden sukzessive aus der KPD ausgeschlossen. Erich Sander setzte seine Arbeit ab 1929 zunächst in der KPO fort und trat dann der SAPD bei, einer linkssozialistischen Abspaltung der SPD.